Infodienst 3 / September 2022

Auf dem Weg zur nachhaltigen Gesellschaft Von der Fürsorge zur Teilhabe Rentnerin gründet Start-up Wandel und Transformation September 2022 Infodienst3 www.berufsverband-hauswirtschaft.de

Infodienst 3/22 3 Editorial Beatrix Flatt Der Kanzler spricht von Zeitenwende. Mit diesem Schlagwort ist die Wende in der Sicherheits- und Außenpolitik nach dem russischen Überfall auf die Ukraine gemeint. Bewusst geworden ist uns in den letzten Monaten aber auch, dass wir nicht nur eine Krise bewältigen müssen, sondern mehrere, die zusammenhängen. Man denke nur an Klima- oder Energiekrise. Wir wissen, dass die aktuellen Herausforderungen nur mit einer Transformation der Gesellschaft erreicht werden können. Es muss einen Wandel unseres Lebens und Wirtschaftens in Richtung Nachhaltigkeit geben. Und das alles wird nur mit Hauswirtschaft gelingen. Selten war Hauswirtschaft so aktuell und so präsent. Die Energiespartipps für Haushalte überschlagen sich. Die Frage, was braucht man wirklich zum Leben, wird wieder häufiger gestellt. Wie sieht eine sinnvolle Vorratshaltung aus? Wie kann man mit kleinem Budget ein gesundes Essen auf den Tisch bringen? Wieviel Geld brauchen Menschen für ein vernünftiges Leben? Was ist nachhaltige Ernährung? Was ist Planetary Health Diet? Wie können Menschen dieses Wissen in ihren Alltag integrieren? Alles Themen rund um Hauswirtschaft. Es könnte also auch eine Zeitenwende für die Hauswirtschaft sein. Bei den hauswirtschaftlichen Expert*innen in Praxis und Wissenschaft, in Ausbildung und Beratung ist so viel hauswirtschaftliches Know-how vorhanden, dass man sich fragt, warum diese Expert*innen nicht in den abendlichen Talkshows sitzen oder Interviews in den Nachrichtensendungen geben? Es ist viel zu wenig bekannt, dass Hauswirtschaft einen entscheidenden Beitrag zum Wandel unserer Gesellschaft beitragen kann oder Menschen die Angst vor möglichen Krisen nehmen kann. Dass Hauswirtschaft Krise kann, hat sie während der Coronapandemie gezeigt. Und jetzt arbeiten hauswirtschaftliche Fachkräfte daran, dass ihre Betriebe resilienter werden, um auch in den aktuellen Krisen handlungsfähig zu bleiben. In diesem Infodienst zeigen wir viele Beispiele, wie Hauswirtschaft jetzt schon Wandel gestaltet und vorantreibt. Die Themen reichen von Algen in der Ernährung als Beitrag zum Klimaschutz und zur Ernährungssicherung bis hin zum Wandel bei der Unterstützung von Menschen mit Behinderung. Wir stellen die Initiative vor, bei der eine Tagungsstätte Menschen motiviert, die CO2-ärmere Menüvariante zu wählen. Wir führten Interviews mit der hauswirtschaftlichen Betriebsleiterin Inke Kellerhoff, die die Transformation eines Energiekonzerns begleitet, und mit der Nachhaltigkeitswissenschaftlerin Dr. Melanie Speck über die Zukunftsaufgaben der Hauswirtschaft. Ohne hauswirtschaftliches Know-how wird die Transformation zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft nicht gelingen. Die Zeit der bescheidenen Zurückhaltung der Hauswirtschaft muss endgültig vorbei sein. Hauswirtschaft kann zum Treiber des Wandels werden. Werden Sie in Ihren Einrichtungen, an Ihrem Arbeitsplatz und in Ihrem Umfeld aktiv. Zeigen Sie, das Potenzial der Hauswirtschaft. Berichten Sie uns von Ihren Aktivitäten und Erfolgen. Herzliche Grüße Liebe Leser und Leserinnen, Beatrix Flatt

Infodienst 3/22 4 Editorial Mit Dank an unsere Sponsoren: Inhalt 6 Gemüse aus dem Wasser 10 Hauswirtschaft ist politisch 14 Fakten auf den Tisch 17 Bewerbung im Wandel 18 Wandel: radikal digital 21 Vom Wandel beim Wohnen 24 Mit mehr Care für ein „Gutes Leben” 26 Einkaufen in Krisenzeiten 28 Wäsche für mehr Selbstständigkeit 29 Bakterien gegen Schmutz und Geruch 31 Pflege for Future 32 Label für Bio in der Gastronomie 34 Vorstandswahl 2023 35 Bayern und Nordrhein-Westfalen 36 Ausbildung nebenberuflich von zu Hause aus 37 Mitgliederversammlung 38 Menschen im Berufsverband 39 Fortbildungen 40 Weniger Lebensmittelmüll in Senioreneinrichtung 41 Absolvent*innen der Technikerschule 42 Neue Mitglieder, Impressum, Stellenmarkt 3 Aus dem Berufsverband Aus der Berufspraxis Service S. 10 Auf dem Weg zur nachhaltigen Gesellschaft S. 21 Von der Fürsorge zur Teilhabe S. 28 Rentnerin gründet Start-up Berufsverband Hauswirtschaft auf Facebook Zukunft Interview Ernährung Beruf Interview Menschen mit Behinderungen Zukunft Management Pflege Reinigung Nachhaltigkeit Ausland Aktuelles Landesverbände Aktuelles Deutscher Frauenrat Ihre Ansprechpartner Karriere Für Sie kurz notiert Schule Wertgeschätzt & willkommen Titelfotos: Roquette Klötze GmbH & Co.KG; AdobeStock; Körber-Stiftung – Patrick Pollmeier

Infodienst 3/22 5 Die Haushaltsökonomin Dr. Brigitte Schober-Schmutz nennt möglichen Grund: „Oft werden die Proteinquellen in vegetarischen Lebensmitteln nicht so intuitiv erkannt wie bei Fleisch und Milch.” Das Klimakochbuch der Tagungsstätte Schloss Beilstein geht deshalb einen anderen Weg: Es weist die CO2-Emmissionen und den Proteingehalt verschiedener Rezepte aus. Das ist eine Chance, die pflanzliche Ernährung gesund in die eigene Ernährung einzubinden und in die breite Bevölkerung zu tragen. So die Erkenntnisse von Dr. Brigitte Schober-Schmutz. Sie leitet das Haus der Kinderkirche – Schloss Beilstein. Es ist ein Tagungshaus im Bottwartal nördlich von Stuttgart mit jährlich rund 9000 Übernachtungsgästen und 1200 Tagesgästen. Das Haus wird überwiegend von Jugendlichen und kirchlichen Gruppen genutzt. Aber auch Hochzeiten und Firmenevents finden im Schloss Beilstein statt. Schober-Schmutz verbindet ihre berufliche Tätigkeit als Leiterin der Tagungsstätte und Finanzreferentin für den württembergischen, evangelischen Landesverband für Kindergottesdienst e. v. mit ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit: Sie macht in ihrem Haus wissenschafltiche Evaluationsstudien zu dem Angebot „CO2-Buffets” sowie Kurse „Klima und Ernährung“ oder „Klimasensibles Kochen mit CO2-Budget”. Diese Studien zum Thema nachhaltige Ernährung publiziert sie sowohl auf wissenschaftlichen Tagungen, auch international, als auch öffentlichkeitswirksam über Kochbücher und Medien. Schon länger beschäftigt sich die Leiterin des Tagungshauses mit nachhaltiger Ernährung. Jetzt hat sie festgestellt, wie wichtig das Label auf dem Speiseplan ist. „Es gibt Menschen, die wählen wie selbstverständlich das vegetarische Essen. Aber viele wollen nicht vegetarisch essen, aus welchen Gründen auch immer. Im Tagungshaus ist man deshalb dazu übergegangen, den CO2-Ausstoß, der durch das jeweilige Essen verursacht wird, auszuweisen. Das Ergebnis: Viele Menschen wählten die Alternative mit dem niedrigeren CO2-Wert. Oft waren es die vegetarischen Varianten.” Während der Schließzeiten in der Coronapandemie bot die Tagungsstätte vegetarisches und veganes Essen zum Abholen an. Dieser Service wurde gut angenommen. Auch hier achtete das Küchenteam beim Speisenangebot weiter auf niedrige CO2-Emmissionen. „Immer mehr Menschen fragten nach den Rezepten”, so Dr. Schober-Schmutz. Das kam der Wissenschaftlerin die Idee, ein Kochbuch zu veröffentlichen. Sie entwickelte mit ihrem Team ein Klimakochbuch für die Fastenzeit mit 51 Rezepten. Für jedes Rezept hat sie den Proteingehalt und die CO2Emissionnen berechnet und bei den Rezepten veröffentlicht. Es wurde Wert daraufgelegt, dass sich alle Rezepte sowohl für die Großküche als auch für den Privathaushalt oder StudierendenWGs eignen. Deshalb sind alle Rezepte für die schnelle, unkomplizierte Küche geeignet. Selbst beim Einkauf im Bioladen liegt der durchschnittliche Lebensmitteleinsatz pro Hauptgericht pro Person bei 2,50 Euro. Da es ein Kochbuch für die Fastenzeit ist, ist es gleichzeitig ein Winterkochbuch, in dem vorwiegend Lagergemüse oder Konserven eingesetzt werden. Das Klimakochbuch kann entweder für 4,90 Euro in der Tagungsstätte erworben werden oder gegen Rechnung per E-Mail (info@kikiw.de) bestellt werden. Der Erfolg des Kochbuches war so groß, dass im Spätherbst das zweite Klimakochbuch mit Rezepten für Frühling, Sommer und Herbst erscheint. Beatrix Flatt Kochbuch gegen die Klimakrise Etwa zehn Prozent der Deutschen ernähren sich vegetarisch, ein Teil davon verzichtet komplett auf tierische Produkte, ernährt sich also vegan. Die Gründe sind vielfältig: Gesundheit, Umweltschutz oder Tierschutz. Obwohl viele Menschen die Klimakrise ernst nehmen und sich Veränderungen wünschen, obwohl bekannt ist, dass pflanzliche Ernährung das Klima schützt, ist der Konsum an Fleisch, Käse oder Eier trotzdem hoch.

6 Infodienst 3/22 Seit über 20 Jahren wird in Klötze, eine Kleinstadt in Sachsen-Anhalt, an der Zukunft gearbeitet und geforscht. Und Jörg Ullmann ist fast von Anfang an dabei. Als Biologe suchte er nach seinem Studium einen Job. In Klötze wurde ein Produktionsleiter für eine Algenfarm gesucht. „Ich hatte keine Ahnung von Algen, fand das Thema aber spannend.” Heute ist er Geschäftsführer der Algenfarm und betreibt nach eigenen Worten Landwirtschaft. „Manche nennen es auch Aquakultur. Ich baue Lebensmittel an und deswegen bezeichne ich mich als Landwirt.“ Gemeinsam mit seiner Frau Kirstin Knufmann arbeitet er daran, dass Algen die Teller und Kochtöpfe der Welt erobern und die Menschen erfahren, wie wertvoll Algen als Lebensmittel und als Nahrungsergänzung sind. Knufmann und Ullmann arbeiten Hand in Hand. Unabhängig voneinander haben sie ihre Algenleidenschaft entwickelt. Während Ullmann den Anbau von Mikroalgen in Klötze optimierte, beschäftigte sich Knufmann schon in ihrer Jugend und später als Fotografin in unterschiedlichen Metropolen der Welt mit gesunder Ernährung. Irgendwann wurden Algen zum festen Bestandteil ihrer Ernährung. Da es schwierig war, diese zu bekommen, gründete sie ihr eigens Unternehmen PureRaw. „Hier bekommt man alles, was man für eine hochwertige Ernährung braucht, aus verantwortungsvollem Anbau und kontrollierter Qualität – einschließlich Algen.” Auf einer Messe lernten sich die beiden kennen. Sie teilen ihre Leidenschaft und die beiden Unternehmen ergänzen sich. Gemeinsam entwickeln sie Ideen, wie man noch mehr Menschen von Algen begeistern kann. Die Alternative zum Ackerbau: Algen aus dem Gewächshaus Zunächst zum Anbau: Zu Beginn werden die „Aquarien in Röhrenform” mit Wasser gefüllt. Danach werden NährFoto: B. Flatt Gemüse aus dem Wasser Es sieht futuristisch aus und erinnert an eine Kunstinstallation: 500 Kilometer lange Glasröhren mit einer leuchtend grünen Flüssigkeit in einem riesigen Gewächshaus. Hier wächst das Lebensmittel der Zukunft: Algen. Genauer gesagt „Mikroalgen“, wie Jörg Ullmann, Geschäftsführer der Algenfarm Roquette in Klötze, erklärt. Algen sind Lebewesen, die im Wasser leben und Photosynthese betreiben. Dann hört es aber auch schon mit den Gemeinsamkeiten auf. Bisher sind 47 000 Algenarten bekannt. Es wird geschätzt, dass es bis zu zehnmal mehr Arten auf der Erde geben könnte. Genutzt werden derzeit etwa 100 Algenarten. Mikroalgen sind mikroskopisch kleine Algen, die oft mit bloßem Auge nicht zu erkennen sind. Makroalgen sind dagegen mit bloßem Auge erkennbar. Ihre Länge reicht von wenigen Millimetern bis zu 60 Metern. Die meisten Großalgen leben im Meer, also im Salzwasser, es gibt aber auch Süßwasseralgen. Die Algenpioniere Kirstin Knufmann und Jörg Ullmann setzen große Hoffnungen in Algen als Lebensmittel der Zukunft.

Infodienst 3/22 7 Eising Studio, KOSMOS-Verlag, J. Ullmann/K. Knufman, Algen - gesundes Gemüse aus dem Meer, 2016 stoffe und eine Algen-Starterkultur zugegeben und die Algen beginnen zu wachsen. Wenn die Alge reif für die Ernte ist, wird sie über eine Zentrifugation vom Wasser abgetrennt und danach getrocknet. Das Algenpulver kann sofort verzehrt oder weiterverarbeitet werden. Im Sommer ist die erste Ernte schon nach wenigen Tagen möglich, wenn es kälter ist und die Tage kürzer werden, dauert es entsprechend länger. In dem Gewächshaus der Algenfarm mit 1,2 Hektar Grundfläche und 500 Kilometern Glasröhren werden jährlich 20 bis 30 Tonnen Mikroalgen, überwiegend der Art Chlorella und Spirulina geerntet. Und damit ist Ullmann mitten im Thema. Auf gleicher Fläche rund um die Algenfarm ernten Landwirte acht bis neun Tonnen Weizen. „Wir können also auf gleicher Fläche, viel mehr ernten.” Aber er zählt noch mehr Vorteile auf: Die Algenproduktion im Gewächshaus ist unabhängig von Niederschlägen. Pestizide, Herbizide oder Fungizide werden nicht gebraucht und belasten somit auch nicht die Umwelt. Die Algen brauchen zwar außer Wasser und Licht auch Nährstoffe, aber diese können ganz exakt dosiert werden. „Es gibt keine Auswaschungen in das Grundwasser.” Die in Klötze produzierte Algenbiomasse wird weltweit als Nahrungsmittel, Nahrungsergänzungsmittel, Lebensmittelzusatz, Futtermittel und im Kosmetikbereich vertrieben. Abfälle gibt es in der Algenfarm keine. „Unser Abfall ist Sauerstoff”, bemerkt Ullmann scherzhaft. „Außerdem gibt es Abwasser, aber das enthält keine Schadstoffe und kann somit direkt ins Klärwerk geleitet werden. Nächstes Ziel ist es, dieses Wasser auch noch selbst aufzubereiten und wiederzuverwerten.” Saison für den Algenanbau ist von März bis November. „In dieser Zeit gibt es genügend Sonnenlicht und es ist ausreichend warm”. Im Winter sind die Röhren leer, denn es würde sich nicht lohnen, das Gewächshaus zu heizen. Algen für mehr Ernährungssicherheit? Die Zukunft der Algen hat längst begonnen: Schon heute stecken laut Ullmann in 70 Prozent der industriell verarbeiteten Lebensmittel Algen. Blaue Gummibärchen, blaue Schokolinsen oder blaues Eis erhalten ihre Farben oft durch Algen. Alginate werden als Verdickungsmittel (E 401 bis 405) eingesetzt. Auch hinter Stabilisatoren verbergen sich oft Algen – in der Zutatenliste taucht es dann als Carrageen oder E 407 auf. Agar-Agar ist als Gelatineersatz bekannt und trägt die E-Nummer 406. Die Industrie hat die unendlichen Möglichkeiten von Algen bereits erkannt, aber in den Küchen spielen Algen noch keine große Rolle. Das soll sich nach Ullmann und Knufmann ändern, denn das Potenzial ist rieDer Geschmack aus den Algen: Umami Algen sind auch intensive Geschmacksträger. In der japanischen Küche ist Kombu die Grundlage einer geschmacksintensiven Brühe mit dem Umami-Geschmack. Mit dem japanischen Begriff umami bezeichnet man einen Geschmack abseits der üblichen vier Geschmacksrichtungen süß, salzig, sauer und bitter. Die Geschmacksqualität wird als herzhaft-intensiv, fleischig beschrieben. Sie ist aber nicht mit salzigem Aroma zu vergleichen. Umami wird durch die Aminosäure Glutamat vermittelt, die natürlich vor allem in stark proteinhaltigen Nahrungsmitteln wie Fleisch, Fisch und Käse vorkommt, aber auch in Algen. In Form des Geschmacksverstärkers Mononatriumglutamat kommt umami heutzutage in der Lebensmittelindustrie zum Einsatz, um den Eigengeschmack von Lebensmitteln zu verstärken. Die in Japan als Kombu bekannte Algenart enthält Glutaminsäure und wird zur Herstellung von Suppen verwendet. Traditionell wird die japanische Brühe „Dashi“ aus Kombu und Fischflocken hergestellt. Kirstin Knufmann hat eine vegane Variante entwickelt: Für 1000 ml Dashi-Brühe benötigt man: 2 Stück Kombu (je 5-10 cm oder 8-10 g) 10 g getrocknete Shiitake-Pilze 1000 ml Wasser Zubereitung: Kombu in Streifen schneiden (mit einer Schere) und mindestens 10 Minuten im Wasser einweichen (besser 24 Std.). Die getrockneten Shiitake Pilzen mit ins Wasser geben. Auf 60°C erhitzen (nicht kochen, sonst wird es bitter). Vom Herd nehmen und für 30 Minuten abgedeckt ziehen lassen. Kombu und Shiitake Pilze abseihen und die Dashi Brühe am besten frisch verwenden. Alternativ: abkühlen lassen und im Kühlschrank lagern (maximal 2-3 Tage) oder in Eiswürfelformen einfrieren.

sig: Die Algenexperten schwärmen: „Algen wachsen 10 bis 30mal schneller als Landpflanzen. Und sie liefern wichtige Proteine. Damit können sie einen wichtigen Beitrag zur Welternährung leisten.” Außerdem strotzen Algen vor Vitaminen und Mineralstoffen. „Algen erhalten viele lebenswichtige Nährstoffe in konzentrierter Form, deren Bedarf wir mit der üblichen Ernährung oft gar nicht mehr decken können”, wirbt Ullmann für Algen. Inhaltsstoffe wie Eisen, Calcium, Jod, Vitamin B12 und hochwertige Fettsäuren wie Omega-3-Fettsäuren machen Algen zum Superfood. „Weltweit leiden viele Menschen an Mangelernährung und Unterernährung. Algen können die schlechte Versorgungslage in weiten Teilen der Welt verbessern”, so Knufmann. Die Algenfarm in Klötze ist eine Pilotanlage. „Hier wird seit 20 Jahren Pionierarbeit geleistet.” Weltweit war es die erste Anlage, die Mikroalgen in einem Glasröhrensystem anbaut. Mittlerweile gibt es allein in Europa 400 Algenfarmen, die Algen produzieren. Ullmann ist mit der Algenfarm Teil eines weltweiten Forschungsnetzwerkes zum Thema Algen. Als „forschendes Unternehmen” arbeitet er mit Universitäten und Hochschulen zusammen und steht mit Wissenschaftler*innen aus der ganzen Welt imAustausch. Ein Aspekt der Forschung betrifft zum Beispiel das Vitamin B12. Die offizielle Ernährungswissenschaft sagt, dass dieses Vitamin nur in tierischen Lebensmitteln enthalten sei. Die Empfehlung lautet deshalb, dass Veganer Vitamin B12 als Nahrungsergänzung zu sich nehmen sollten. Vitamin B12 ist allerdings in Algen enthalten. Nun wird daran geforscht, ob es in der enthaltenen Form auch für den menschlichen Organismus verfügbar ist. „Und die Ergebnisse sind vielversprechend”, so Ullmann. Ein anderer Hoffnungsträger ist in Algen enthalten, an dem in Klötze geforscht wird: Spermidin. Nach heutigen Erkenntnissen kommt dieser Stoff in allen lebenden Organismen und in allen Körperzellen vor und ist eng mit dem Zellwachstum verbunden. Es wird vermutet, dass Spermidin die Alterungsprozesse im Körper verlangsamt. Im Moment wird dieses Nahrungsergänzungsmittel überwiegend aus Weizenkeimen gewonnen. „In Algen, zum Beispiel in Chlorella, ist aber die fünffache Menge enthalten”, erläutert der Algenexperte. Wissenschaftskommunikation und Aufklärung notwendig Ullmann ist Mitglied in verschiedenen Kommissionen und Gremien auf Landes-, Bundes- und EU-Ebene, um den Algenanbau in Europa und weltweit als Zweig der Landwirtschaft zu etablieren. Knufmann tritt als Referentin auf Kongressen für Ernährung oder gesunde Lebensführung auf. Sie schreibt Kochbücher und vermarktet Algen unter anderem die Mikroalgen aus der Algenfarm in Klötze als Lebensmittel und Nahrungsergänzungsmittel. Knufmann experimentiert viel in ihrer eigenen Küche sowie in der Produkteentwicklung für PureRaw, um Algenprodukte und Algenrezepte zu entwickeln. Mit MagicBlue, einem Pulver aus der SpirulinaAlge, zaubert sie blaue Smoothies oder Eiscreme – ganz ohne synthetische Farbstoffe, dafür mit gesunden Inhaltsstoffen der Alge. Mit Pulver aus der Chlorella-Alge lassen sich grasgrüne Drinks mischen oder farblich interessante Nachtische kreieren. Auch Marmorkuchen in gelb-grün statt gelb-braun ist dank Chlorella möglich. Knufmann entwickelte außerdem ein Ersatzprodukt für Ei und Butter auf Algenbasis zum veganen Backen. Sie freut sich, dass ihr Unternehmen so erfolgreich ist und dass sie auch schon einige Preise als Unternehmerin gewonnen hat. Sie sieht sich nicht als erfolgreiche Einzelkämpferin, sondern sie möchte etwas bewegen. „Es ist kein Trend, was wir hier machen, sondern es ist notwendig und es schmeckt.” In ihrem Unternehmen PureRaw hat sie elf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt, die im Bereich Konfektionierung, Abfüllung, Versand, Lager, Qualitätsmanagement, Qualitätssicherung, Produktentwicklung und Marketing arbeiten. Hinter einem Schleusengang mit Hygieneschutz befüllen zwei Mitarbeiterinnen Tüten mit abgewogenen Samen, Beeren und Pulvern. Wenn Knufmann neue Rezepte entwickelt, werden ihre Mitarbeitenden regelmäßig in die Verkostung und Sensorikprüfungen einbezogen. Knufmann schwärmt von Bubble-Tea und veganem Kaviar auf Algenbasis. Beide Produkte stehen für sie für neue Geschmackserlebnisse und eine vielseitige Algenküche. Doch bis dieses Wissen in der breiten Bevölkerung angekommen ist, ist noch viel Aufklärung, Wissenschaftskommunikation und Algen-Marketing notwendig. Durch Veranstaltungen, Messeauftritte, Seminare und Vorträge arbeitet sie daran, Industrie, Verbraucher und Algenproduzenten zusammenzubringen. Immer geht es um die Fragen: Wie kommt die Alge auf die Teller in den Restaurants, in den Großküchen und in den über 40 Millionen Haushalten in Deutschland? Wie können Menschen Algen in ihren Küchenalltag integrieren? Dabei sind „Meerespflanzen” in der Ernährung gar nicht neu, gibt Ullmann zu Bedenken. Die Makroalgen wurden in erster Linie dort genutzt, wo sie verfügbar waren, also in Küstennähe. In Japan gelten Algen seit mindestes 1500 Jahren als bedeutendes Nahrungsmittel. Man weiß, dass Algen auch in China, auf Hawaii und bei den Maori in Neuseeland schon sehr lange eine große Rolle spielen. Die Vielfalt der Algen ist riesig und ihr Einsatzgebiete sind sehr unterschiedlich. Ullmann erläutert, dass es etwa 47 000 Algenarten gibt, bisher nutzt der Mensch etwa 100. Die Gemeinsamkeit aller Algen ist, dass sie Photosynthese betreiben und Wasser zum Leben brauchen. Infodienst 3/22 8 Zukunft

Infodienst 3/22 9 Sind Algen ein Nischenprodukt oder lassen sich diese auch in der Gemeinschaftsgastronomie integrieren? Als Küchenchef eines Messe- und Kongresszentrums verantworte ich oft Veranstaltungen mit mehreren 1000 Personen. Von daher kann ich behaupten, dass sich Algen auch für Großküchen eignen. Und wie schaffen Sie es, Ihre Gäste davon zu begeistern? Ich verfolge zwei Wege: Ich setze die Alge proaktiv ein, das heißt, die Alge steht im Gericht im Vordergrund. Dabei beobachte ich, dass viele Menschen einen Bogen um dieses Angebot machen, da sie Vorbehalte oder manchmal sogar Abneigungen gegen Algen haben. Wenn ich zum Beispiel einen Wakame-Salat, also einen Salat aus Meeresalgen auf dem Buffet platziere, ist Aufklärung notwendig. Aber dieser Salat ist gleichzeitig ein geschmackliches Highlight. Ich integriere Algen aber auch in Gerichte, ohne die Alge in den Vordergrund zu stellen. Kartoffelsalat kann man zum Beispiel gut mit klein geschnittenen Meeresalgen anreichern. Die Essensgäste nehmen die Algen meist als Kräuter wahr. Durch die Algenbeigabe brauche ich den Salat allerdings weniger salzen und die Menschen bekommen die wertvollen Inhaltsstoffe der Algen. Ähnliches mache ich auch mit Gemüsesuppe oder Pesto. Menschen essen Sushi und wissen oft nicht, dass Nori eine Meeresalge ist. Haben Sie Tipps für Küchenleiter und Küchenleiterinnen? Zuerst muss man wollen und bereit sein, sich mit Neuem auseinanderzusetzen. Küchenleiter haben eine Pflicht, sich mit neuen Lebensmitteln und neuen Ernährungsweisen auseinanderzusetzen. An vegan kommt kein Küchenchef mehr vorbei und so wird es demnächst auch mit der Alge sein. Auch hier kann ich nur sagen, einfach mal probieren und Algen wie Kräuter ganz selbstverständlich in Gerichte einarbeiten und danach Feedback einholen und mit den Essensgästen ins Gespräch zu kommen. Ist das in Ordnung, Algen auf den Tisch zu bringen, ohne dass die Essensgäste es wissen? Algen sind für jedes Essen eine Bereicherung und auch kulinarische Highlights. Sie sind gesund, schmackhaft und man spart durch den Umami-Geschmack Salz. Es ist vegan und es gibt auch keine religiösen oder ethischen Gründe, die gegen Algenverzehr sprechen. Wer sich für die Zutatenliste interessiert, der erfährt es natürlich. Das Einzige, was man bedenken muss, ist der hohe Jodgehalt mancher MeeresAlgen. Das ist bei einem kombiniertem Buffet jedoch nicht so relevant, da Algen nur als eine Zutat von mehreren in den Gerichten verarbeitet werden. Im Bereich Senioren- oder Krankenhausverpflegung erhalten Menschen, die auf den Jodgehalt achten müssen, von Haus aus einen speziellen Diätplan. Welche Rolle könnten Algen auf dem Speisenplan in Altenheimen oder Tagungsstätten spielen? Hier sind wir noch sehr am Anfang. Als Vorreiter experimentiere ich mit der Alge in der Gemeinschaftsverpflegung. Mit den beiden Algenpionieren Kirstin Knufmann und Jörg Ullmann entwickele ich gerade ein Schulungskonzept für Köche für das nächste Jahr. Vielen Dank, Herr Skoluda. Das Interview führte Beatrix Flatt. Küchenchef Oliver Skoluda experimentiert mit Algen Algen in der Gastronomie und Seniorenverpflegung? Ullmann und Knufmann sehen ein großes Potenzial der Algen in Großküchen, zum Beispiel in Mensen oder Betriebsrestaurants, die vegane Küche anbieten, oder in Krankenhäusern und Senioreneinrichtungen, wo man Wert auf gesunde Ernährung und eine hohe Nährstoffdichte legt. Verantwortliche und Entscheidungsträger müssen das Produkt kennenlernen, von den Vorteilen überzeugt sein und dann lernen, mit Algen umzugehen und vor allem Gerichte zuzubereiten, die die Essensgäste akzeptieren. Hier arbeiten die beiden zum Beispiel mit dem Küchenleiter Oliver Skoluda zusammen. „AmAnfang stand die Produktion im Vordergrund, mittlerweile arbeiten wir daran, die Potenziale der Algen für die Ernährung, aber auch für Industrie und Technik zu erforschen und zu kommunizieren”, so Ullmann. „Im Moment scheint es, als ob Algen einen Lösungsansatz für viele Probleme auf der Welt bieten. Man muss nur wissen, welche Alge für was angewendet werden kann.“ Dann sei alles möglich von Ernährung über Treibstoff bis hin zu Zementersatz. Algen: Lebensmittel und Rohstoff der Zukunft. Beatrix Flatt

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